Jan Svankmajer

Das Universum des Jan Svankmajer

Der 1934 in Prag geborene Filmemacher, Objektkünstler, Zeichner und Poet Jan Švankmajer entwickelte seit den 60er Jahren größtenteils animierte Kurzfilme, deren surreale, Alb traumhafte Bildsprache in Verbindung mit  der über viele Jahre entwickelten „Stop- Motion- Technik“ Aufsehen erregte. Seine Filme basieren häufig auf literarischen Vorlagen von Edgar Allen Poe, Marquis de Sade und Lewis Carroll.

Neben literarischen Inspirationen schöpft Jan Švankmajer seine Themen gerne aus Natur und Naturgeschichte. Das andauernde Projekt seiner „unsystematischen Anatomie“ bildet den Höhepunkt dieser kritisch ironischen Auseinandersetzung mit Natur und Evolution.  Es entstanden Filme und Objekte, in denen Švankmajer seine  Geschichte der Evolution ausbreitet,  wie etwa im Film „Historia Naturae“, der den Prozess der Entwicklung vom Tier zum Menschen aus der Sicht des Künstlers visualisiert.

Die in der Ausstellung im Kunstraum Dornbirn gezeigten Objekte  sind surreale, an historische Natursammlungen und Tierpräparate erinnernde Artefakte, die bei näherer Betrachtung rasch als „absurde“ Wesen erkennbar werden. Die Beschäftigung mit evolutionärer Entwicklung endet vorläufig in der Fantasie einer neuen „unsystematischen“ Anatomie, dargestellt sowohl in Objekten, als auch im graphischen Werk des Künstlers.

24. Juli – 6. September

Eine bewegte Geschichte der Natur

Thomas Macho

1.

Ehemals gab es keine Naturgeschichte. Als Gaius Plinius Secundus im ersten nachchristlichen Jahrhundert seine Naturalis historia verfasste, ging es ihm nicht um die Darstellung diachroner Entwicklungen, um Fortschritte oder Ver­fallsprozesse, sondern – in 37 Büchern mit nahezu 2.500 Kapiteln – um eine en­zyklopädische Sammlung: In der Vorrede erklärte er, alles berühren zu wollen, was die Griechen tes enkykliou paideias nannten, rund 20.000 Gegenstände, die unbekannt (ignota) oder nicht sicher erforscht (incerta ingeniis facta) seien. Plinius verhandelte also Themen, die wir heute den verschiedensten Wissen­schaften zuweisen würden: etwa der Physik, Astronomie, Meteorologie, Geolo­gie, Mineralogie, Geographie, Ethnologie, Zoologie, Botanik, Anthropologie, Medizin, Pharmakologie oder den Agrarwissenschaften. Manche Themenkom­plexe wurden mehrfach kommentiert, etwa die Meteorologie im 2. und 18. Buch oder die Zoologie im 8. bis 11. und 18. Buch. Die Ordnung der Berichte – aus rund 2.000 Büchern, wie Plinius stolz vermerkte – blieb unsystematisch. Da­rin spiegelte sich ein Bild der Welt, in der die Vielfalt dominierte, nicht die Ab­folge mythischer Zeitalter (wie im ersten Buch der Metamorphosen Ovids).

Mit der Verbreitung der christlichen Religion hat sich dieses Bild verstärkt: nach Maßgabe der Schöpfungserzählung aus dem Buch Genesis, wonach Gott alle Wesen in sechs Tagen geschaffen und für gut befunden habe. Kurzum, alles war seither da und konnte in eine scala naturae, eine Kette des Seienden, ein­geordnet werden. Solche Vorstellungen prägten noch die Kunst- und Wunder­kammern des Barock; in ihnen fanden sich – etwa nach der Klassifikation der Museographia Casper Friedrich Neickels aus dem Jahr 1727 – Naturalia (Tier­präparate, Pflanzen, Mineralien), Mirabilia, Scientifica und Artificialia. Gesam­melt und ausgestellt wurden zwar auch Kuriositäten, Monstren und scheinbar einzigartige Objekte; doch vorrangig zielte das System auf enzyklopädische Vollständigkeit, später karikiert in den Erzählungen von der Herstellung einer Karte im Maßstab 1:1 (Jorge Luis Borges) oder von einer Enzyklopädie der Toten (Danilo Kiš), ausgedrückt im unmöglichen Wunsch des britischen Büchersamm­lers Thomas Phillipps, den dieser – drei Jahre vor seinem Tod im Jahr 1872 – in einem Brief an Robert Curzon formulierte: »Ich kaufe gedruckte Bücher, weil ich ein Exemplar von jedem Buch auf der Welt haben möchte!!!« Noch das Hauptwerk von Georges-Louis Leclerc, Comte de Buffon – die Histoire naturelle, générale et particulière, erschienen in 44 Bänden zwischen 1749 und 1804 in Paris – bezog die Rede von den »époques de la nature« auf den Horizont des königlichen Naturalienkabinetts, wie der Untertitel verriet: »avec la description du Cabinet du Roy«. Die zeitliche Ordnung, die Buffon den Ruf eines Vorläufers der Evolutionstheorien Lamarcks und Darwins eintragen sollte, war geprägt von der christlichen Chronologie: Die Schöpfung dauerte sechs Tage und einen, und seit der Erschaffung des Menschen sind allenfalls sechstausend Jahre vergan­gen; auf Grundlage des jüdischen Kalenders wurde sogar der Zeitpunkt der Weltschöpfung exakt berechnet: der 7. Oktober 3.761 a.C., acht Uhr und elf Minuten. Immerhin wurde zugestanden, dass die Proportionen der biblischen Schöpfungserzählung gedehnt werden könnten; für Gott sind schließlich tau­send Jahre wie ein Tag.

Ehemals gab es keine Naturgeschichte. Darum hat Arthur O. Lovejoy – in den William James Lectures von 1933 an der Harvard University – die These vorge­tragen und drei Jahre später unter dem Titel The Great Chain of Being – publi­ziert, dass der vielleicht bedeutendste epistemische Bruch des 19. Jahrhunderts als »Eindringen der Zeit in die Wissenschaft«, als Temporalisierung der Chain of Being, charakterisiert werden müsse. Zwar wurde schon im Hochmittelalter die theologisch heikle Frage diskutiert, ob die Konvergenz von Möglichem und Wirklichem die schöpferische Freiheit Gottes einschränke; Thomas von Aquin behauptete damals, Gott habe zwar eine unendliche Vielfalt möglicher Dinge gedacht, aber nicht alle ausgewählt zur Verwirklichung – was freilich das Theo­dizee-Problem verschärfte: Wenn Gott frei gewählt hat, warum hat er dann die Existenz böser (oder zumindest mangelhaft guter) Existenzen gewählt und wo­möglich auf die Verwirklichung unendlicher Möglichkeiten des Guten verzich­tet? Doch erst im 19. Jahrhundert mussten die Zeiten der Erdgeschichte und der Evolution immer tiefer in die Vergangenheit erstreckt werden, während die Zukunft zum unabsehbaren Projekt des technischen Fortschritts und einer all­mählichen Erziehung des Menschengeschlechts (nach Lessing) avancierte. Seit­her erfüllte nicht nur der – im Vergleich mit dem Sphärenkosmos der Antike – grenzenlos anwachsende Raum des Universums das menschliche Bewusstsein mit Furcht und Schrecken, wie Pascal oder Nietzsche bekannten, sondern auch die Ausdehnung der Zeit.

2.

Die Frage nach einer Historia Naturae, die Jan Švankmajer in seinem neunminü­tigen Kurzfilm von 1967 aufwarf, ist also keineswegs trivial. Und seine Antwort ist überaus raffiniert: Denn sie zitiert die Geschichte der Repräsentationen von Natur vor ihrer eigentlichen Historisierung im 19. Jahrhundert – also gerade die Bildwelten der Kunst- und Wunderkammern, der Idealisierung enzyklopädi­scher Fülle, die Tableaus frühneuzeitlicher Naturkunde; aber sie zitiert diese Ikonographie der Natur, um sie mit kinematographischen Mitteln in Bewegung zu versetzen. Der Vorspann rahmt die üblichen Credits ein, und zwar mit eini­gen allegorischen Porträts von Giuseppe Arcimboldo (1526–1593). Diese Por­träts sind protosurreale Collagen aus Früchten, Tieren und Pflanzen; sie zeigen die vier Jahreszeiten oder die vier Elemente. Konkret erscheint auf der linken Bildseite mehrfach die Darstellung der Luft, auf der rechten Seite das Porträt des Wassers. Danach wird eine Widmung eingeblendet: Sie gilt einem Zeitge­nossen Arcimboldos – dem Habsburger Kaiser Rudolf II. (1552–1612), der in Prag eine bedeutende Kunst- und Wunderkammer einrichtete. Von 1575 bis 1587 wirkte Arcimboldo als Hofmaler Rudolfs II., bevor er nach Mailand zurück­kehren durfte; zwischen 1590 und 1591 entstand ein Porträt Rudolfs, das die Gesichtszüge des Kaisers mit Hilfe von Blumen und Früchten aus allen Jahres­zeiten als Vertumnus zeigt, den etruskisch-römischen Vegetationsgott der Ver­wandlungen.

     

Giuseppe Arcimboldo: Luft (1566), Privatsammlung Basel

Giuseppe Arcimboldo: Vertumnus (1590/91), Skoklosters Slott (Schweden)

Giuseppe Arcimboldo: Wasser (1566), Kunsthistorisches Museum Wien

Die acht Kapitel der Historia Naturae werden jeweils eingeleitet durch ein wei­teres Bildzitat, das den Kontext der Kunst- und Wunderkammern aufruft: näm­lich durch die Titelgravur der 1622 gedruckten Continuatio rariorum et aspectu dignorum varii generis quæ collegit et suis impensis æri ad vivum incidi curavit atque evulgavit von Basilius Besler (1561–1629), einem Nürnberger Apotheker mit botanischem Garten und Naturalienkabinett. Die acht Abschnitte folgen da­nach der scala naturae. Es beginnt also mit den Wassertieren (Aquatilia): Ge­zeigt werden Muscheln, Ammoniten, Krabben oder Krebse, in raschem Bild­wechsel und mit zahlreichen Zooms, wobei die Formen an einigen Stellen einen sprechenden Mund zu bilden scheinen. Das zweite Kapitel ist den Sechsfüßern (Hexapoda) gewidmet: Schmetterlingen, Käfern, Honigbienen oder Grillen, wo­bei schwarzweiße und farbige Darstellungen, Tableaus (in Schaukästen) und Detailaufnahmen einander ablösen. Überschritten werden nicht nur mediale und historische Differenzen, sondern auch die Grenzen zwischen Leben und Tod: Präparate werden gleichsam zu lebenden Tieren animiert; plötzlich laufen die Grillen im Glaskasten, bevor sie wieder erstarren. (Nebenbei gesagt: als Hexapod wird auch eine Parallelkinematikmaschine bezeichnet, die auf sechs unterschiedlich langen Beinen ein hohes Maß an Beweglichkeit in allen Frei­heitsgraden ermöglicht. Dieses Hexapod wurde schon in den 1950er Jahren er­funden; es wird vor allem für Flugsimulationen verwendet.)

Basilius Besler: Titelgravur der Continuatio rariorum (Nürnberg 1622)

Das dritte Kapitel führt ins Reich der Fische (Pisces): Fischaquarelle, Skelette, Fischaugen und Schuppen in Großaufnahmen, Fischpräparate, die ein Skelett im Glaskasten – Erinnerung an ein Aquarium – umrunden, und schließlich ein animiertes Skelett, das dieses gläserne Gefängnis sprengt. Im nächsten Kapitel geht es um Reptilien (Reptilia), lebende Schildkröten, bunte Schildkrötenpanzer an der Wand, Schlangen, die – unentwegt kreisend – in Skelette übergehen, Salamander, Eidechsen und Frösche, kurz vor dem Ende ein lebendiger Frosch im Glas. Den Reptilien folgen die Vögel (Aves): Es beginnt mit vielfarbigen Eiern, einer lebensecht präparierten Taube auf einem Tischchen, über die ein Käfig (in wechselnden Formaten) gestülpt wird, bevor die Taube zum Leben erwacht. Gezeigt werden frühneuzeitliche Vogelaquarelle, Close-Ups von Vogelaugen, Federn und Flügeln, tanzende Vogelskelette im Käfig; zuletzt legt das Skelett ein Ei, das zerbricht. Die scala naturae führt danach zu den Säugetieren (Mam­malia), zum Tiger, der unruhig – und im Zeitraffer extrem beschleunigt – seinen Käfig durchmisst, zu Zebra, Stachelschwein und Gürteltier, wiederum als Präpa­rat und Skelett, bevor im siebenten Kapitel die Affen (Simiae) – im raschen Wechsel zwischen vielfältig bunten Darstellungen und Filmaufnahmen leben­diger Affen – eine Art von Tanz absolvieren. Sie scheinen Fratzen zu schneiden, zu grinsen, zu erschrecken, in mimisch ausdrucksstarken Frontalporträts; sie tauschen Früchte – und mutieren doch wieder zum Skelett. Das letzte und ach­te Kapitel, wie könnte es anders sein, handelt vom Menschen (Homo). Wir sehen anatomische Schautafeln, Klappbilder, Stiche vom Uterus, Muskelmän­ner in der Tradition des Andreas Vesalius (1514–1564) und seiner De humani corporis fabrica (von 1543), Wachspräparate, Großaufnahmen menschlicher Augen, Ohren und Münder.

 

3.

Jedes Kapitel der Historia Naturae wird mit einer kurzen Sequenz abgeschlos­sen: Sie zeigt einen Mann, der mit einer Gabel ein sauber abgeschnittenes Stück Rindfleisch zum Mund führt, kaut und schluckt. Die Kau- und Schluckge­räusche sind so laut, als wären sie aus dem Körperinneren aufgenommen wor­den. Nur das letzte Kapitel zum Homo präsentiert einen Totenschädel; auch er isst das Fleisch. Die Botschaft ist leicht verständlich: Sammler, Künstler, Kaiser, Historiker und Biologen bleiben zum Ende essende Wesen. Das Fleisch ver­schwindet im Close-Up des Mundes wie zuvor das Fleisch von den Skeletten der Schlangen, Fische, Vögel und Affen; und noch die Toten wollen verzehren. Kürz­lich hat die New Yorker Wissenschaftsjournalistin Elizabeth Kolbert ein beun­ruhigendes Buch veröffentlicht: The Sixth Extinction: An Unnatural History, in deutscher Übersetzung von Ulrike Bischoff unter dem Titel: Das sechste Ster­ben. Wie der Mensch Naturgeschichte schreibt. Das Buch wurde 2015 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Im Prolog schreibt Kolbert: »Noch nie zuvor hat eine Spezies so stark in das Leben auf der Erde eingegriffen, und doch haben bereits vergleichbare Ereignisse stattgefunden. Ganz vereinzelt erlebte die Erde in ferner Vergangenheit Momente eines so drastischen Wandels, dass die Ar­tenvielfalt beträchtlich abnahm. Fünf dieser Ereignisse bildeten wegen ihrer katastrophalen Auswirkungen eine eigene Kategorie: die fünf Massenextinktio­nen. Es wirkt wie ein fantastischer Zufall – ist aber vermutlich keineswegs ein zufälliges Zusammentreffen –, dass man die Geschichte dieser Ereignisse ausge­rechnet zu einem Zeitpunkt enträtselt, an dem der Menschheit bewusst wird, dass sie ein weiteres Massenaussterben verursacht. Obwohl es noch zu früh ist, um sagen zu können, ob es die Ausmaße der fünf großen Artensterben errei­chen wird, bezeichnet man es bereits als das sechste Massenaussterbeereig­nis.«[1] Die Wunderkammer ist ein Friedhof, ein Totentanz des Fressens.

Wie der Mensch Naturgeschichte schreibt: Jan Švankmajer hat seine Historia Naturae als Suita inszeniert. Jedem Kapitel ist ein Tanz zugeordnet: den Aquati­lia ein Foxtrott, den Hexapoda ein Bolero, den Pisces ein Blues, den Reptilia eine Tarantella, den Aves ein Tango, den Mammalia ein Menuett, den Simiae eine Polka und dem Homo ein Walzer. Als Komponist dieser Tänze fungierte der tschechische Filmkomponist Zdeněk Liška (1922–1983); er hatte die Musik zu mehr als 160 Filmen und Fernsehproduktionen geschrieben, u. a. zu Das Ge­schäft in der Hauptstraße (von Ján Kadár und Elmar Klos, 1965) oder zu Schat­ten eines heißen Sommers (von František Vláčil, 1977). Musik ist freilich nicht eine bloße Zugabe zur Historia Naturae, wie schon die Zwischentitel auf den Besler-Vorlagen ankündigen. Sie setzt die Zeitlichkeit des Enzyklopädischen in Bewegung; sie rhythmisiert die Narrationen der Collage. Die Objekte und Tab­leaus – wie sie Švankmajer auch in seinen Bilderlexika und Schaukästen der fan­tastischen Zoologie, der Mineralogie und Anatomie gestaltet hat – werden in Zeitabläufe und Aktionen übersetzt. Dabei geht es um Historisierung, um die sichtbare Temporalisierung der scala naturae (im Sinne Lovejoys), aber auch darum, die »versteinerten Verhältnisse« – wie Marx in der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie schrieb – zum Tanzen zu zwingen, indem »man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt«. Kurz gesagt: Švankmajer will auch die »versteinerten Verhältnisse« zur Natur, wie sie sich in Museen und Sammlun­gen, in Schaukästen und Käfigen, in Präparaten, Tafelbildern und kunstvoll montierten Skeletten manifestieren, zum Tanzen bringen, indem er ihnen ihre eigene Melodie vorsingt.

Peter Greenaway: A Zed & Two Noughts (1985)

Der künstlerische Einfluss, den die Filme Jan Švankmajers ausgeübt haben, soll­te nicht unterschätzt werden. 1984 gelang es den Zwillingsbrüdern Stephen und Timothy Quay, das Werk Švankmajers auch in der angelsächsischen Welt bekanntzumachen; in diesem Jahr wurde ihr Film The Cabinet of Jan Švank­majer produziert. Ein Jahr später kam Peter Greenaways A Zed & Two Noughts in die Kinos. Der Vorspann dieses Film beginnt – zur einprägsamen Musik Michael Nymans – mit zwei Kindern, die einen widerstrebenden Dalmatiner zu drei blauleuchtenden Großbuchstaben zerren: ZOO. Der Blick wechselt zum Tigerkäfig. Der Tiger schreitet unaufhörlich von einem Ende des Käfigs zum an­deren; auf dem Boden liegt ein Zebrakopf. Am rechten Bildrand sitzt ein junger Mann, der mit einer Stoppuhr die Bewegungen des Tigers misst. Brems- und Unfallgeräusche lassen ihn aufschrecken. Ein Auto hat eine rotweiße Schranke gerammt. Eine Frau schreit, während die linke Hälfte der Windschutzscheibe von einem Schwan eingenommen wird, der offenbar mit dem Wagen kollidiert ist. Zugleich kann im rechten oberen Bilddrittel ein Esso-Reklameplakat mit dem bekannten »Tiger im Tank« wahrgenommen werden. Die nächste Einstel­lung zeigt einen Fotografen vor dem Käfig eines Gorillas; das Geräusch des – in Großaufnahme gezeigten – Bildzählwerks erinnert an die Stoppuhr. Der Gorilla ist verkrüppelt; ihm fehlt das rechte Hinterbein. Aus der Vogelperspektive se­hen wir neuerlich das verunglückte Auto, an dem nun die Sanitäter mit Schweißgeräten arbeiten; hinter dem Wagen erkennt man wieder die Groß­buchstaben ZOO. Um Buchstaben und Tiere wird es immer wieder gehen in die­sem Film, um die merkwürdig enzyklopädische Verschränkung der Tiere mit dem Alphabet, wie wir sie aus Kinderspielen kennen, bei denen ein willkürlich gewählter Buchstabe mit einer Stadt, einem Land oder einem Tier assoziiert werden muss: Affe, Bär, Chamäleon, Delphin, Esel – bis Walfisch, Yak oder Zebra. Greenaways Film kann als eine Art von Kommentar zur Historia Naturae betrachtet werden; mit ihr teilt er die Liebe zur Kunst- und Wunderkammer, zur Vielfalt der Darstellungsmedien, zur musikalisch inspirierten Inszenierung musealisierter, in Käfigen und Schaukästen verwahrter Natur. In gewisser Hin­sicht scheint er – wie Švankmajer – die Notiz Elias Canettis zu bekräftigen: »Er denkt in Tieren, wie andere in Begriffen.«[2]

 

[1]  Elizabeth Kolbert: Das sechste Sterben. Wie der Mensch Naturgeschichte schreibt. Übersetzt von Ulrike Bischoff. Berlin: Suhrkamp 2015. S. 10.

[2]  Elias Canetti: Die Fliegenpein. Aufzeichnungen. München/Wien: Carl Hanser 1992. S. 14.

Video

"Das Universum des Jan Švankmajer"

Katalog

Jan Svankmajer
Das Universum des Jan Svankmajer

Katalogdokumentation zur Ausstellung mit Fotos und Texten von Thomas Macho, Kurt Bracharz und einem Interview von Gerald Matt mit Jan Svankmajer.
Herausgeber Kunstraum Dornbirn
Deutsch/ Englisch, 122 Seiten
Verlag für Moderne Kunst, Wien
ISNB: 978-3-903004-73-6