Zilvinas Kempinas

TUBE Dornbirn 2016

Mit TUBE, dem Hauptwerk des  litauischen Künstlers Zilvinas Kempinas, erstmals auf der Biennale in Venedig 2009 präsentiert und seither selten gezeigt, erzeugt der Künstler mit minimalen Mitteln maximale Sinneseindrücke. Horizontal gespannte Videobänder vermitteln die Vision eines Tunnels, dessen Durchschreiten beim Besucher neue, faszinierende Ebenen der Wahrnehmung hervorruft. Raum und Zeit werden aus einer überraschend neuen Perspektive existenziell erfahrbar.

Entscheidend wichtig für die Präsentation von TUBE  ist die räumliche Qualität des Ausstellungsortes. In der rohen und ursprünglichen Industriearchitektur der historischen Montagehalle des Kunstraum Dornbirn fand Zilvinas Kempinas  die perfekten Voraussetzungen für die Präsentation des vom Künstler als Wendepunkt seines Schaffens bezeichneten Werkes.

Die Arbeiten von Zilvinas Kempinas faszinieren durch ihre Leichtigkeit und Poesie. Er arbeitet ausschließlich mit Videobändern,  die  auf ausgesprochen skulpturale Weise eingesetzt werden, indem er sie als lineares Basismaterial für seine raumgreifenden Installationen verwendet.  Die Videobänder  –  in ihrer ursprünglichen Funktion Träger von Informationen – bewegen sich im Luftzug und verwandeln durch ihr hypnotisierendes Linienspiel die Architektur in ein flüchtiges, optisch schwirrendes Environment.

Immersionsmaschine ‚Tube‘

Roland Wetzel

Es sind aussergewöhnliche, dynamische Räume von mindestens 30 Metern Länge, die eine Installation von ‚Tube’ überhaupt ermöglichen. Zilvinas Kempinas konzipierte und realisierte diese Arbeit erstmals anlässlich seines Stipendiums im Atelier von Alexander Calder in Saché (2008). Ein Jahr später, 2009, wurde ‚Tube’ als offizieller Beitrag von Litauen zur Kunst-Biennale in einem der grössten Kirchenräume Venedigs, der säulenbestandenen, dreischiffigen Scuola Grande della Misericordia (2009) eingerichtet. Als nächstes wurde die Arbeit in den aus glattem Ortbeton gefertigten Ausstellungsräumen der Galerie Leme in Sao Paulo (2010) installiert. Nun, im Jahr 2016, ist ‚Tube’ also in der vom Kunstraum Dornbirn umgenutzten, roh belassenen, ehemaligen Montagehalle aufgebaut, die mit ihrem unprätentiösen aber grosszügigen industriellen Charme geradezu nach dem installativen Grossformat zu rufen scheint. An jedem Ort ihrer Präsentation erzeugte die filigrane Arbeit ‚Tube’ eine Aufladung, eine ‚Elektrifizierung’ des Umraumes, und spielte ihre vielschichtige Präsenz aus.

Was den Kunstraum Dornbirn wie kaum einen zweiten Ausstellungsort auszeichnet, ist seine Fähigkeit, die Vielfalt des Lichts und der Atmosphäre in den Innenraum zu transportieren, durch die grossen Fensterflächen auf den zwei Längsseiten und die um alle vier Fassaden umlaufenden Obergaden-Fenster. Im Zusammenspiel mit Kempinas ‚Tube’ ergibt sich so ein unglaublich faszettenreiches Wahrnehmungsaggregat. Man ist an Monet’s Serie von Heuschobern oder seinen Zyklus von Fassadenaufnahmen der Kathedrale von Rouen erinnert, doch im Unterschied zu jenen impressionistischen Serien, die das Atmosphärische malerisch abbilden, erreicht die körperliche Involvierung hier eine andere Dimension: Man wird zum Teil der Installation, die in jedem Moment dynamisch auf Bewegung, Schatten, Licht und Luft reagiert. Dieses Phänomen des ‚Embodiment’ hat mich an Kempinas Arbeiten schon immer fasziniert. Es ist bei ‚Tube’ besonders ausgeprägt, weil man keine Aussenperspektive einnehmen kann, sondern in jeder Konstellation zum Teil des Geschehens wird.

Die Referenz auf die Minimal Art wurde im Zusammenhang mit Kempinas Videoband-Installationen oft bemüht. Sie hat ihre Berechtigung, weil die Architektur und der menschliche Massstab – wie auch die BetrachterIn – auch dort zu ‚rezeptiven Akteuren’ der Installationen werden. Sie hat ihre Berechtigung auch im Hinblick auf die Verwendung ‚kunstunwürdiger’ industrieller Materialien, wenn auch Videobänder in der benötigten Qualität um 1960 noch kaum verfügbar waren.

Dieses Videoband, das die röhrenförmige, raumgreifende Grundform auszeichnet, hat einzigartige Materialeigenschaften. Es widersetzt sich wohl als einziges industrielles Material über eine Strecke von 30 Metern erfolgreich der Schwerkraft. Das Band scheint zu schweben und zieht eine präzise horizontale Linie durch den Raum, der in der Vervielfachung zu einer geometrischen Grundform, einem Zylinder, zu einem flirrenden, bewegten Körper wird.

Diese vielteilige, filigrane Raumzeichnung mit ihrem präzise sich wiederholenden Intervall von schwarzem Strich und Zwischenraum verursacht eine retinale Wirkung, die an Werke der Op-Art erinnert. ‚Tube’ entfaltet zudem, so wie auch andere Videoband-Rauminstallationen, eine kinetische, subtil auf Impulse des Umraumes reagierende Wirkung. Durchschreitet man ‚Tube’, bildet sich die Silhouette des Körpers als Schattenspiel auf den Videobändern ab. Der Blick nach aussen abstrahiert den Umraum durch die unauflöslich-dichte Rasterung und macht ihn gleichzeitig zum Teil der Installation, indem er die Architektur scheinbar entmaterialisiert.

‚Tube’ ist eine grossartige Immersionsmaschine. Sie fusioniert den Raum und seine Parameter, das Atmosphärische, den Körper des Betrachters und seine Wahrnehmungsorgane zu einem einzigen, polyvalenten Apparat.

So ist es auch nicht möglich, die Installation und ihre komplexe Dynamik in Fotografie oder Film halbwegs gültig zu reproduzieren. Es ist eine Schöpfung der reinen Präsenz, die nur im Hier und Jetzt umfassend erlebt werden kann.

Die kühle Sinnlichkeit gehört zu den herausragenden Eigenschaften von ‚Tube’. Mit ihrem Durchmesser von 2 Meter 10 Zentimeter lässt sich ihr annäherungsweise Le Corbusiers erste Version seines ‚Modulor’ einschreiben. Das identifikatorische Potential des Schwebens trägt darüber hinaus zu einer weiteren Verzahnung von Betrachter und Kunstwerk bei, indem das erhebende Gefühl des Fliegens vom Material auf den Körper übergreift.

Es sind also viele Eigenschaften, die auf den Menschen generell und auf seine spezifischen Fähigkeiten der Wahrnehmung und der Interaktion zielen. Dieses aktivierende Potential kann man auch mit der Bühnenhaftigkeit der Installationen in Verbindung bringen. So ist es sicher kein Zufall, dass Kempinas in seinen litauischen Künstlerjahren prämierte Bühnenbilder für Theateraufführungen konzipiert hatte. Bühnenbilder, die den Raum dynamisierten und die Gesten und Handlungen der Schauspieler in einer hyperrealen Umgebung akzentuierten.

Zilvinas Kempinas Werke und Installationen sind von einer kühlen Strenge, gleichzeitig berühren sie emotional. Oft handeln sie implizit von Energien oder Schwingungen und ihrem Potential der Transformation. Luft, manchmal durch Ventilatoren bewegt, die Schwerkraft, Licht, Raum und Videoband bilden die ungewöhnliche Material-Palette seines Schaffens. ‚Reine’ Präsenz, eine phänomenologische Disposition der Wahrnehmung und die Teilnahme an einem performativen Raum sind die einfachen Essenzen, die es zur Betrachtung seiner Arbeiten braucht. Sie richten sich nicht ausschliesslich an den Augensinn, sondern eröffnen synästhetische Potentiale, die die Kapazität zur Transgression unserer Sinne herausfordern. Damit haben sie Teil an einem allgemeineren Trend in Kunst, Architektur und Design, den Körper und seinen Wahrnehmungsapparat umfassend anzusprechen. Diese Qualität von Kempinas Installationen, eine energetische – oder in Anlehnung an Walter Benjamin gar auratische – Atmosphäre zu generieren, lässt den Betrachter umfassend partizipieren.

‚Tube’ schreibt sich im Werk Kempinas’ in eine zentrale Gruppe von Werken ein, die geprägt sind von einer virtuosen Verwendung von Videoband in all seinen spezifischen und einzigartigen Materialeigenschaften. Schon 1994, also noch in seiner Zeit in Litauen, verwendete er erstmals 35mm-Filmband für die performative Installation ‚Nach der Natur’, in der er die besonderen Eigenschaften von Zelluloid erstmals erkundete und gleichzeitig das Potential von akkumulierter Information dieses modernen Datenträgers reflektierte. 2002, im Jahr seines Master-Studienabschlusses am Hunter College der City University of New York, setzte eine erneute und systematische Beschäftigung mit diesem faszinierenden und vielseitigen Werkstoff ein. Mit ‚Fifth Wall’ setzte er die gegen Null tendierende Materialstärke ins Zentrum einer Rauminstallation, indem er eine vertikal eingeführte ‚fünfte’ Raumschicht auf einen Punkt der Betrachterperspektive hin so ausrichtete, dass die von der Decke zum Boden gespannten Filmbänder von diesem Standort aus gesehen nahezu zum Verschwinden gebracht wurde. ‚Nautilus’ aus dem selben Jahr, oder auch ‚Still’ von 2003 betonten die grafischen Eigenschaften des Filmmaterials, den Raum und im Raum zu zeichnen. ‚O (Between Fans)’ von 2003, ‚Flying Tape’ von 2004 und zahlreiche weitere Varianten untersuchten das Zusammenspiel und die einzigartige Kapazität dieses ultraleichten, fluiden Materials, eine tänzerisch leichte Verbindung mit bewegter Luft einzugehen und ihre spielerische Dynamik abzubilden. Mit ‚Columns’ von 2006 wurde die Möglichkeit getestet, eine elementare geometrische Form mit Filmband nachzuzeichnen, die gleichermassen Transparenz und Materialität betonte. Mit ‚Parallels’ von 2007 oder auch ‚Slash’ von 2012 wurde die dialogische Kapazität mit den Besuchern, mit der Architektur, mit der Dynamik von Licht und Schatten und der Reaktivität auf Strömungen und Schwingungen der Luft besonders hervorgehoben. ‚White Noise’ von 2007 oder auch ‚Fountain’ von 2011 betonten das kinetische Potential, auf Luft und Licht zu reagieren, indem Ventilatoren die Bewegung ins Expressive erweiterten.

Der scheinbar ‚einfache‘ Werkstoff Videoband offenbart also einen überraschenden Reichtum an gestalterischen Möglichkeiten, die ihn sich eigentlich als skulpturales Material aufdrängen lassen. Dieses Potential auszuschöpfen, verdankt sich der Experimentierfreude, der Beobachtungs- und Innovationsgabe Kempinas‘.

Auf untypische, aber doch bezeichnende Weise erzählte schon ‚Moon Sketch’ von 2005, eine seiner früheren Arbeiten, von der Suche nach den Möglichkeiten, elementare Seh-Erlebnisse zu generieren. Sie besteht aus einem Karton, dessen Innenseite mit Kohlestift geschwärzt und anschliessend gerollt wurde, einem Diarahmen, der zum Durchblick einlädt, einem simplen Draht zur Befestigung, sowie einer Wand, vor der die Rolle mit minimalem Abstand aufgehängt ist, und die vielleicht mit weisser Dispersion bemalt ist. Diese Wand bildet den eigentlichen Gegenstand der Anschauung: Unser Auge und die mit ihm verknüpften Erfahrungsbilder in der primären Sehrinde sehen ein Bild des Mondes im fahlen Streiflicht, der von einem Lichtkreis und dem dunklen Schatten des imaginierten Weltraums umrahmt ist. Solch berückende Phänomene vorauszusehen, ist eine besondere Qualität in der Arbeit von Kempinas. Ich erinnere mich, wie er beim Einrichten seiner Einzelausstellung im Museum Tinguely 2013 den Wänden entlangging, um von blossem Auge den ‚perfekten Mond’ zu evaluieren – eine ‚rituelle’ Handlung, die für nicht Eingeweihte durchaus erklärungsbedürftig war. Was diese und alle weiteren seiner Arbeiten auszeichnet, ist die Wahl unprätentiöser Alltagsmaterialien, die auf einen besonderen Effekt hin ausgewählt wurden, die man ihren ‚natürlichen‘ Eigenschaften nicht zutrauen würde.

Die aussergewöhnliche Kapazität des ‚Embodiment‘ von Kempinas Installationen weiter zu untersuchen, wäre eine lohnende Perspektive. Dazu bieten sich eine Reihe von Theorien und Publikationen an, die den vorher schon erwähnten, allgemeinen Trend hin zur Körperlichkeit der Kunst-Wahrnehmung (‚You don’t have a body, you are a body‘) interpretieren. Zuerst erwähnt werden soll hier Henri Bergsons grundlegende Publikation ‚Materie und Gedächtnis‘ (Matière et mémoire, 1896), in der er Zeitlichkeit und die Beziehung von Körper und Geist durch die Funktionen des Gedächtnisses analysierte. Er begründete damit eine philosophische und kunsttheoretische Haltung, die dem ‚analytischen Divisionismus‘ das multisensorisch Ganzheitliche gegenüberstellte. Dass wir heute von einer weitergehenden Erkenntnis sprechen können, die unseren Wahrnehmungsapparat für (Kunst-)Erfahrungen subjektiviert, verdanken wir in seiner Nachfolge durch das 20. Jahrhundert und bis heute zahlreichen Theoretikern wie Martin Heidegger (Sein und Zeit, 1927), John Dewey (Art as experience, 1934), Maurice Merleau-Ponty (Phénoménologie de la perception, 1945), Gaston Bachelard (Poétique de l’espace, 1957) oder Henri Lefebvre (La production de l’espace, 1974). Begriffe wie relationale Ästhetik, Präsenz, Performativität, Unmittelbarkeit und Immersion, unterschiedliche Erscheinungsformen von Energie, und raum-zeitliche Erfahrungen, verorten den menschlichen Körper und seine Sinnesleistungen als ‚tertium comparationis‘ für eine heutige Kunsterfahrung, ‚die eine Berührung wie von Innen‘ ermöglicht.

Zilvinas Kempinas und Thomas Häusle im Gespräch

Thomas:

Nur wenige Menschen können von sich sagen, dass sie ein klares Lebensziel haben. Sie allerdings haben sich schon sehr früh dafür entschieden, Künstler zu werden, lange bevor Sie noch die Schule oder die Universität besuchen konnten. Woher kam diese Neigung?

Zilvinas:

Meine Mutter meint, dass ich diesen Entschluss schon im Alter von zwei Jahren getroffen hätte. Das ergibt natürlich nicht viel Sinn, und ich habe eigentlich keine Ahnung, woher diese Fixierung stammte, aber soweit ich mich selbst erinnere, wusste ich ganz genau, dass ich gerne Kunst produzieren würde. Vielleicht manifestiert sich hier mein eigensinniger Charakter.

Thomas:

Auf das Grundstudium in klassischer Malerei folgte eine postgraduale Ausbildung im Feld der neuen Medien. Parallel dazu haben Sie immer wieder sehr erfolgreich als Bühnenbildner gearbeitet. Zeigt sich hier eine persönliche Entwicklung, die Sie bewusst und konsequent verfolgt haben, um schließlich dort anzukommen, wo Sie jetzt sind: Ihrem einzigarten Einsatz von Materialien und Ihrer besonderen Ausdrucksform?

Zilvinas:

Ich neige sehr zum Experiment. Ich möchte sehr gerne entdecken, was in meinen Augen noch nicht in visualisierter Form vorliegt. Ich habe mit der Malerei und der akademischen Zeichnung begonnen und mein Studium an der Kunstakademie in Vilnius abgeschlossen. Meinen Master-Studienabschluss bekam ich schließlich vom Hunter College der City University of New York. Aber nach zehn Jahren akademischer Studien hat mich nichts glücklicher gemacht, als zum ersten Mal ein Magnetband vor einem Ventilator tanzen zu sehen. Das war sicher ein langer Weg, aber nur so konnte ich das Potenzial dieses Materials erkennen und diese Arbeiten schaffen.

Thomas:

Ihre Kunst ist mit verschiedenen Bewegungen der jüngsten Kunstgeschichte in Verbindung gebracht worden. Häufig werden dabei Minimal Art, Pop Art, Op Art, kinetische Kunst, Surrealismus und abstrakte Kunst erwähnt. Welche Bedeutung haben diese kunstphilosophischen und kunstgeschichtlichen Entwicklungen tatsächlich für Ihre Arbeit?

Zilvinas:

Ja, das stimmt, Ansätze dieser Bewegungen sind in meiner Arbeit tatsächlich sichtbar und sie haben auch sicher mein Denken beeinflusst, genauso aber wie sie das Denken der heutigen BetrachterInnen von Kunst geformt haben. Wir lernen, entwickeln und bewegen uns weiter, wir nutzen vergangene Errungenschaften als Vehikel hin zu einer Zukunft, so funktioniert es.

Thomas:

In Interviews haben Sie eine kritische Sichtweise gegenüber fast jedem Versuch eingenommen, Sie mit anderen Künstler Persönlichkeiten zu vergleichen oder Analogien zwischen ihrer Arbeit und kunsthistorischen Bewegungen zu ziehen. Was verbirgt sich hinter dieser Haltung?

Zilvinas:

Es macht mir nichts aus, wenn ich mit jemandem verglichen werde, solange ich den Vergleich nicht diskutieren muss. Ich glaube einfach nicht, dass diese Vergleiche sehr aussagekräftig sind.

Thomas:

Sie haben gemeint, dass Sie „lieber eine neutrale Position im Hinblick auf die Interpretation von Kunst einnehmen“. Lösen Sie sich bewusst von traditionellen Entwicklungen, oder sehen Sie sich einfach nicht als Teil einer Tradition oder beeinflusst von einer Bewegung der Vergangenheit?

Zilvinas:

Ich bin sehr von allem beeinflusst, das ich je auf die eine oder andere Weise gelernt habe – indem ich mich entweder bemüht habe, etwas zu perfektionieren, das ich wertschätze, oder das Gegenteil davon – Ideen, die ich seltsam oder falsch finde, an mir abprallen lasse.

Aber all diese Problemstellungen gehören in den Bereich der formalen Konstruktion von Kunst. Letztendlich möchte ich, dass meine Arbeit visuell und emotional einnehmend ist, und dass sie eine wirkliche Herausforderung darstellt. Denn wir leben in einem digitalen Zeitalter, das von einem massiven Informationsfluss geprägt ist: Alle sind betäubt von Bildern voller Brutalität und von allen möglichen tragischen Ereignissen, die wir jeden Tag in unseren kleinen Monitoren sehen.

Thomas:

Sie vertreten sehr vehement die Idee einer Kunst, die vollständig von der Persönlichkeit und Absicht des Künstlers losgelöst ist und nur für und aus sich selbst heraus existiert und Wirkung haben sollte. Welche Einflüsse, Ideen und Entwicklungen haben Sie zu dieser Überzeugung geführt?

Zilvinas:

Ich betrachte ein Kunstwerk als ein System aus Elementen, wie eine Maschine oder ein lebendiger Organismus. Dieser muss als System funktionieren und sollte ein eigenes Leben haben. Ideen von Marcel Duchamp, John Cage und die Einbindung von Zufall sind natürlich für meine Praxis wesentlich.

Thomas:

Ihre eigene Arbeit wird nur wenig von der Kunstgeschichte oder von Arbeiten anderer KünstlerInnen inspiriert. Was aber inspiriert sie wirklich?

Zilvinas:

Praktische Arbeit ist selbst die beste Quelle für Inspiration. Wenn Sie lange genug arbeiten, werden die Dinge an einem gewissen Punkt klar und Sie spüren genau, dass Sie unbedingt weiter gehen möchten. Ich werde von meinen eigenen unvollendeten Ideen angetrieben, die ich unter neuen Bedingungen erkunden will. Architektonische Räume haben auch immer eine sehr positive Wirkung auf mich. Der Kunstraum Dornbirn gehört sicherlich auch zu solchen Orten.

Inspiration kommt immer aus einer Richtung, in die du nicht blickst, und sie ist immer wieder anders, es ist also nicht möglich zu verallgemeinern, wie und warum sie geschieht.

Thomas:

Mit wenigen Ausnahmen schaffen Sie dreidimensionale Installationen und Skulpturen. Mit minimalistischen Gesten entwickeln Sie komplexe Wahrnehmungsmaschinen, verändern und formen Räume. Sie nennen Ihre Arbeiten „visuelle Instrumente“, mit denen die BetrachterInnen spielen können. Was verstehen sie unter dem Begriff „visuelle Instrumente“?

Zilvinas:

Ich interessiere mich für die visuellen Eigenschaften des Kunstwerks und wie es uns auf einer unbewussten Ebene beeinflusst.

Einerseits sind meine Werkstücke abstrakte Objekte/Umgebungen, die nichts anderes als sich selbst repräsentieren, auf der anderen Seite sind sie aus Materialien wie elektrischen Ventilatoren und Videobändern zusammengesetzt, die funktionelle Objekte in der realen Welt sind. Diese Kombination aus dem Abstrakten und Spezifischen ist wie ein Instrument, das die eigene Vorstellungskraft anregen soll.

Thomas:

Die Einzigartigkeit Ihrer Arbeiten und ihre Ästhetik sind nicht zuletzt auf den Einsatz ungewöhnlicher Materialien zurückzuführen. Dies gilt vor allem für den Gebrauch von Videobändern. Was brachte Sie dazu, gerade dieses Material zu verwenden und seinen Einsatz zu perfektionieren?

Zilvinas:

Ich habe entdeckt, dass ein Videoband wirklich einzigartige Eigenschaften hat und dass es als skulpturales Material auf völlig neue Arten eingesetzt werden kann. Es ist extrem leicht, extrem dünn, „endlos“, es hat eine tiefschwarze, reflektierende Oberfläche, es ist flexibel und hat großartige kinetische Eigenschaften. Es wirkt wie eine abstrakte Linie im Raum, aber es ist auch wiedererkennbarer, industriell produzierter Datenträger der letzten Jahrzehnte – dazu bestimmt, Augenblicke der Zeit zu sammeln, unsere Erinnerungen, die obsolet werden und wegdriften und sich selbst in eine Geschichte (Erinnerung) zu verwandeln.

Thomas:

Wenn Sie über Ihre Arbeit sprechen, beziehen Sie sich immer wieder auf die Einfachheit und den Minimalismus der Formen, Materialien und Farben. Sie sind sogar so weit gegangen, die Ansicht zu vertreten, jedermann könne den Produktionsprozess genauso gut übernehmen wie sie selbst. Wie einfach oder komplex ist dieser Produktionsprozess denn tatsächlich?

Zilvinas:

Technisch sind meine Arbeiten nicht allzu kompliziert zu reproduzieren, denn ich verwende dafür keine spezielle Technologie und die Fertigkeiten, die dafür notwendig sind, können entwickelt werden. Bis das Stück aber schließlich seine finale Form hat, dauert es Zeit. Das können mehrere Monate, aber auch mehrere Jahre sein. Ich habe noch immer einige Werke „in Arbeit“, die in diesem Zustand wahrscheinlich auf unbestimmte Zeit bleiben werden. Diese Arbeiten materialisieren sich dann schließlich in neuen Formen mit ähnlichen Ideen. Um also auf Ihre Fragen zurückzukommen, ich glaube, beides ist der Fall – die Arbeiten sind einfach und komplex zugleich; einfach, weil sie nur wenige Elemente und Materialien beinhalten und komplex, weil sie sich durch sehr heikle Eigenschaften auszeichnen und das Gleichgewicht ihrer Proportionen fragil ist. Außerdem spielen auch andere wichtige Nuancen eine Rolle, wie zum Beispiel der Kontext.

Thomas:

Bei TUBE beschränken Sie sich auf grundlegende geometrische Formen, die Farben Schwarz und Weiß und die Materialien Holz, Aluminiumnägel und Magnetbänder. Und tatsächlich stört keine bewusst platzierte Komplikation die Wahrnehmung, keine verborgene Doppeldeutigkeit provoziert eine Auseinandersetzung, trotzdem zeichnen sich Ihre Arbeiten durch eine überwältigende und komplexe Präsenz aus. Wie kann das faszinierende, vielschichtige Staunen, das von jemandem erlebt wird, der Ihre Arbeit betrachtet, aus dieser Klarheit, Einfachheit und Reduktion heraus entstehen?

Zilvinas:

Ich erzeuge lieber keine Grenzen durch Technologie, damit die Menschen schneller mit jenen Elementen eine Verbindung aufbauen können, die irgendwie vertraut sind und sie nicht durch ihre Komplexität einschüchtern.

Selbst wenn ich von mir selbst erwarte, dass ich im Lauf des Prozesses bestimmte mechanische/formale Ziele erreiche, ist es für mich sehr aufregend, wenn ich sehe, dass das Werkstück tatsächlich gut funktioniert. Ich weiß einiges über meine Arbeiten (natürlich, weil ich sie selbst herstelle), aber nicht alles. Also setze ich meine Untersuchung fort.

Thomas:

TUBE ist eine Arbeit im Raum und funktioniert vor allem auch durch den Raum. Wie wichtig sind für TUBE die Architektur und der Umgebungsraum?

Zilvinas:

TUBE ist kein ortsspezifisches Werk im eigentlichen Sinn, denn es kann von einem Ort auf den anderen “übertragen“ werden. Es basiert jedoch sehr auf einem architektonischen Raum, denn dieser wird zu einem integralen Bestandteil der Arbeit. Es ist sehr schwer, dafür die perfekte Architektur zu finden. Der Raum sollte sich nicht nur durch bestimmte Proportionen auszeichnen – eine gewisse Länge, Weite und Höhe–, er sollte auch symmetrisch sein, nach Möglichkeit ein interessantes natürliches Licht, aber auch einen starken eigenen Charakter, eine Geschichte und Präsenz haben und nicht nur ein Schutz für meine Arbeit darstellen. Das ist wichtig, weil Sie sich als BetrachterIn in zwei unterschiedlichen Räumen gleichzeitig bewegen – im Inneren des Kunstwerks und im Inneren der Architektur, die das Kunstwerk aufnimmt. Und Sie sind sich über beide Räume gleichzeitig bewusst.

Thomas:

TUBE verwundert die BetrachterInnen nicht nur, sondern es versetzt sie auch in einen Zustand visueller Verwirrung. Inwiefern zählt die Verwirrung der Wahrnehmung zu Ihren künstlerischen Strategien?

Zilvinas:

Naja, ich setze sie immer wieder bewusst ein, aber sie sollte aus grundlegenden Elementen hervorgehen, sonst funktioniert sie nicht.

Thomas:

Die erstaunliche Wirkung und Qualität Ihrer Werke basiert auch darauf, dass sie ständig anders erscheinen, sich ständig verändern. Dies gilt für Arbeiten wie TUBE genauso wie für die kinetischen Objekte. Wie wichtig ist dabei Bewegung und Veränderung?

Zilvinas:

Sie sind wichtig, weil sie Leben in die Arbeit bringen, sie beleben sie und machen sie zu einem Teil alles anderen, das uns umgibt.

Thomas:

Durch diese Bewegung erreichen Sie eine gewisse Nachhaltigkeit/Dauerhaftigkeit der Rezeption Ihrer Arbeiten. Inwiefern wird Zeit zu einem Teil der Arbeit und zu einem mitbestimmenden Faktor der Wahrnehmung?

Zilvinas:

Die Zeit hat in einigen meiner Arbeiten eine fast physische Dimension – sie ist Teil eines Konzepts, aber auch als reale Zeit erforderlich dafür, das Werkstück zu erleben.

Thomas:

In einem Interview sagten Sie: „Kunst kann zu unserem empirischen Wissen der Welt” nichts beitragen. Was kann die Kunst dann Ihrer Ansicht nach bewirken?

Zilvinas:

Kunst öffnet den Geist. Sie kann uns herausfordern, sie kann unsere eingefahrenen Sichtweisen erschüttern, unsere Sinne über sichtbare physikalische Grenzen der materiellen Welt – wie wir sie kennen – hinaus erweitern. Einige betrachten Kunst als Streben nach Wahrheit, andere betrachten sie als Illusion der Wahrheit. Aber was passiert, wenn die Wahrheit einfach nur traurig und schrecklich ist? Vielleicht hilft uns die Kunst dabei, mit diesem existenziellen Schrecken der Ungewissheit umzugehen und eine Alternative zu einer sogenannten „Wahrheit“ zu finden. Genauso wie Träume uns gesund halten, kann Kunst ein Ventil für unsere Ängste, unsere Hoffnungen und unsere Wünsche sein. Ganz sicher verbindet sie Menschen, sie rettet sie aus ihrer Einsamkeit, wenn auch nur für einige Momente; Kunst kann geteilt werden und sie ist eine außergewöhnliche menschliche Aktivität. Ich hoffe also, dass sie uns empathischer und menschlicher macht.

Ausstellungsansicht TUBE Dornbirn 2016

Fotos Zilvinas Kempinas
Ausstellungsansicht, Detail
Ausstellungsansicht, Perspektive
Ausstellungsansicht, Perspektive
Ausstellungsansicht, Perspektive
Ausstellungsansicht, Detail

Vermittlung

Kunstheft für Kinder, Schüler, Jugendliche und Erwachsene
Zilvinas Kempinas
TUBE Dornbirn 2016

Zilvinas Kempinas

TUBE, Dornbirn 2016
Zilvinas Kempinas
TUBE Dornbirn 2016

Texte von Roland Wetzel und Gerald Matt, Interview mit Thomas Häusle
Zahlreiche Abbildungen und Installationsansichten
Hardcover, 123 Seiten
Deutsch / Englisch
Herausgeber Kunstraum Dornbirn, Thomas Häusle
Verlag für Moderne Kunst, Wien
Preis: 24 EUR inkl. MwSt.