Thilo Frank

Levitation

Thilo Franks Interpretationen physischer Phänomene und Umwelten in eigens entwickelten Räumen schaffen Plattformen der Selbstreflexion persönlicher Wahrnehmungserfahrungen. Der Besucher wird dabei meist durch Interaktion und Partizipation zum auslösenden oder verstärkenden Moment im Selbstversuch der Neuvermessung persönlicher Wahrnehmungsart, Wahrnehmungsfähigkeit und Projektionsfähigkeit.

This Is Not All I See. Eigentlich gibt es mehr zu sehen

Zu Thilo Franks Ausstellung Levitation von Geoffrey Garrison

Anfänge haben etwas Unmögliches an sich. Es bleibt uns versagt ganz am Anfang zu beginnen, zum Ursprung, bis zum innersten Kern der Dinge vorzudringen. Unsere Ursprünge, das liegt in der Natur der Sache, ruhen im Verborgenen. Sie sind für uns als Spezies genauso unzugänglich wie die ersten vorsprachlichen Jahre unseres Lebens, die sich auf individuelle Weise unserer Erinnerung entziehen: unsere Vorgeschichte erleben wir nur in der Form flüchtiger, sprachloser Bilder. Erinnerung entwickelt sich bei Kindern mit dem Spracherwerb und der Verfeinerung von Darstellungssystemen, die es uns ermöglichen, Erlebnissen einen Sinn zuzuordnen, sie uns zu merken und in vermittelter Form weiterzugeben. Auf ähnliche Weise beginnt Geschichte mit Narration und dem Einordnen relevanter Dokumente in ein Archiv. Die Faszination, die die Prähistorie für uns hat, gleicht einer Obsession mit etwas Dunklem und Unbekannten (wie die kindliche Neugier in Bezug auf Geburt und Schwangerschaft).

Levitation, Thilo Franks Ausstellung im Kunstraum Dornbirn scheut solch gewichtige Themen nicht. Von der Decke des ehemaligen Industriebaus hat Thilo Frank einen geheimnisvollen, schwarzen Polyeder gehängt, der an einen wuchtigen, keilförmigen Monolith erinnert. Er reicht über zwei Geschossebenen, wiegt eine Tonne und dreht sich auf Augenhöhe des Betrachters unablässig um sich selbst, eine schlichte, aber ausdrucksstarke Bewegung, die ausgesprochen surreal anmutet. Wir wissen, der Polyeder ist schwer, dennoch schwebt er über uns, auf der etwas verstörenden Höhe unseres Gehirns.

Frank hat die Keilform des Polyeders von der Form eines Faustkeils abgeleitet, das älteste bekannte von Menschen geschaffene Werkzeug, ein primitives, tropfenförmiges Utensil für die Jagd, zum Schlachten, Graben und Zerteilen. Der Faustkeil ist in gewisser Weise der Ausgangspunkt für die nachfolgende Aufspaltung der Entwicklung von Mensch und Tier, er macht ihn zum Homo faber, der Mensch wird zum Schöpfer. Je nachdem aus welchem Blickwinkel man diese Entwicklung betrachtet, bezeichnet er insofern einen Anfang, die Abgrenzung des Menschen zur Tierwelt oder die Entfesselung der wahren Bestialität des Menschen. Mit dem Film 2001: Odyssee im Weltraum, einer fiktiven Darstellung der Geburt der Menschheit, entwirft Stanley Kubrick eben dieses Szenario eines ersten Mordes. Statt dieser filmischen Darstellung unseres Urahnen, den der Monolith in einen brutalen und blutrünstigen Rausch versetzt, kann der keilförmige Stein auch das Bild des Sammlers heraufbeschwören, der verzweifelt versucht sein Leben in einer Welt voller Entbehrungen zu schützen. Tatsächlich ist ein Werkzeug  kein Zeichen der Macht, sondern der Schwäche. Eine Prothese der schutzlosen prähistorischen Menschen, es entspringt dem Hunger und dem Willen zum Überleben. Nur weil die frühe Menschheit keine Klauen hatte, keine natürlichen Verteidigungsmöglichkeiten, entwickelte sie Werkzeuge, um der Welt Form zu geben, Unterschlüpfe zu bauen, Territorium zu schützen und Raum für sich zu beanspruchen.

Während wir wissen, dass auch Tiere Werkzeuge benutzen und dass die Grenze zwischen Mensch und Tier unschärfer ist, als wir uns bislang eingestehen wollten, müssen wir Thilo Franks Faustkeil doch als Erweiterung des Menschlichen betrachten. Er steht symbolisch für das erste Kunstobjekt (oder zumindest für das erste Designobjekt), er bekräftigt das Vermögen der Kunst der Welt Form zu geben. In seiner Vergrößerung wird er zum Monolith; von der Decke abgehängt zum Kokon. Er spricht zu uns, etwas schmallippig, über Dinge die wir nicht kennen können – unsere vorsprachliche, nicht archivierte Herkunft.

Der Resonanzkörper der Erinnerung

Während der Monolith im Raum über unserer Köpfen schwebt, ist die Luft um unsere Ohren von den Geräuschen einer vielschichtigen Klanginstallation erfüllt, die aus ihm herausklingt und vom Raum selbst erzeugt wird. Die Umgebungsgeräusche der Galerie und jene des Publikums – bewusste oder unbewusste Geräusche – werden live aufgenommen und in den Raum zurückgespielt. Mit einer neunminütigen Verzögerung werden die Geräusche mit den vorherigen Aufnahmen zusammengemischt und abgespielt, während zugleich die Aufnahme weiterläuft. Dieser Prozess erstreckt sich über den gesamten Verlauf der Ausstellung, die einzelnen Tonspuren werden übereinandergelegt und zu einem komplexen Geräuschteppich aus Resonanz und verhallenden Klängen verwoben – so könnte der Weltraum klingen (wenn er klingen würde, was er erwiesenermaßen aber nicht tut, da es in einem Vakuum keine Geräuschübertragung gibt).

Die Klanginstallation erinnert an einen ähnlichen Effekt aus einer früheren Arbeit – den ortsspezifischen Pavillon Ekko, der 2012 in Hjallerup, Dänemark installiert wurde. Bei dieser Arbeit zeichneten Mikrofone, die in den Holzlatten der verdrehten Wände eines kreisförmigen Laufganges versteckt waren, die Schritte, Kommentare und das gelegentliche Hüsteln der Besucher auf, während sie durch die Konstruktion spazierten. Diese zufälligen Geräusche wurden im Kreis von Lautsprecher zu Lautsprecher weitergegeben und formten so einen ungewöhnlichen Resonanzraum.

Zudem wurden in unvorhersehbaren Momenten Klangfragmente der Vergangenheit abgespielt, sodass der Besucher den gespensterhaften Spuren derjenigen folgte, die drei Minuten oder drei Stunden oder drei Tage zuvor hier hindurchgegangen waren.

Im Kontext von Audio-Palimpsesten hat Thilo Frank auch von Klangarchiven gesprochen.

Die Ansammlung der Klänge ist allerdings nicht geordnet oder in irgendeiner Form organisiert, vielmehr werden sie wiederholt, übereinandergelegt, wobei auch ihr Verklingen durchaus gewollt ist. Ekko und Levitation folgen weniger einer strengen Systematik als der Idee eines episodischen Gedächtnisses. Die kleinen Bruchstücke von Vergangenheit tauchen in den Tonaufnahmen auf wie auch Erinnerungen mitunter in uns aufsteigen – als ungeordnetes, unvorhersehbares Babel.

Darüber hinaus beziehen sich die Klangkomponenten von Levitation und Ekko auf die Besucher und reflektieren diese. Das Publikum vollendet die Arbeit, erzeugt zusätzliche vielgestaltige Bedeutungen, indem es im Verlauf der Ausstellung zur Entwicklung der Klanglandschaft beiträgt. Durch die Klanginstallation können Besucher miteinander und mit der Zukunft in Verbindung treten.

Bomber, Geheimnisse und Pantoletten

Mit seiner zugespitzten und an ein Projektil erinnernden Form wirkt der Faustkeil irgendwie bedrohlich, fast militärisch. So wie er in diesem harschen industriellen Raum schwebt ähnelt er einem Luftschiff in einem Hangar. Sein dunkler, stromlinienförmiger Rumpf lässt an die typische kohlschwarze, radarabsorbierende Farbe des F-117 Nighthawk und des B-2 Spirit Tarnkappenbombers denken.

Thilo Franks Aneignung des Faustkeils führt uns insofern vom prähistorischen Keil bis zur Taktik des ‘Shock and Awe’ (dt. Schock und Ehrfurcht) und verbindet so die Ästhetik moderner Militärtechnik, die Gefühle von Angst und Schrecken hervorrufen soll, mit der sublimen Vorstellung, die sich hinter der Figur des Monoliths verbirgt.

Während Kampfjets auf hohe Geschwindigkeit ausgelegt sind, sind Luftschiffe – Blimps, Zeppeline und lenkbare Luftschiffe – leichter als Luft; sie schweben. Fliegen bedeutet mit höchster Geschwindigkeit durch die Luft zu gleiten, Levitation hingegen bedeutet schweben, den Gesetzen der Schwerkraft entfliehen. Levitation ist daher historisch gesehen die Domäne von Mystikern, Yogis und Heiligen – Zeichen einer göttlichen Gunst oder einer kontemplativen Weiterentwicklung.

Um einen Eindruck von diesem Schwebezustand zu erhalten reicht es allerdings auch schon, wenn man sich auf eine Kinderschaukel setzt. Dieses simple Spielgerät nimmt in mehreren früheren Arbeiten von Thilo Frank eine entscheidende Bedeutung an (Zwei Phoenixe treffen sich im Wald; Few Phoenixes Get Lost in Water, 2006; Reflected Phoenix, 2009; The Phoenix Is Closer than It Appears, 2010; und Infinite Rock, 2013).

In der ersten Schaukelarbeit, die in einem unterirdischen Bunker installiert war, wurden die Besucher gebeten einzeln in einen dunklen, stillen Raum einzutreten, wo sie sobald sich ihre Augen an die Dunkelheit gewohnt hatten eine Schaukel hängen sahen. Die Reduktion sinnlicher Reize richtete die Aufmerksamkeit des Besuchers alleine auf die körperliche Wahrnehmung des Schwebens im Raum. Es folgten weitere Arbeiten, erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang vor allem The Phoenix Is Closer than It Appears und Infinite Rock. Auch hier wurden die Betrachter aufgefordert in einem vollständig verspiegelten Raum zu schaukeln, wobei dieser in alle Richtungen, das heißt nach oben, nach unten und zu den Seiten unendlich reflektiert wurde.

Trotz ihrer Einfachheit entbehren die Schaukelarbeiten jedoch nicht eines kunsthistorischen Bezugs, auch wenn dieser vielleicht unbeabsichtigt entstanden ist. Jean-Honoré Fragonards Die Schaukel (ca. 1767), vielleicht eines der frivolsten Gemälde der Kunstgeschichte, ist gleichermaßen eine äußerst komplexe Komposition aber auch die Darstellung des simplen Begehrens. Ein junger, im Gebüsch verborgener Mann schaut unter den Petticoat einer Frau die auf einer Schaukel durch die Luft schwebt – ein rosa Funkeln in der dunklen, grünen Umgebung – und eine prächtig verzierte Pantolette verliert.

Während sich bei Fragonard das Vergnügen im illusionistischen Raum des Gemäldes (das Vergnügen der Frau auf der Schaukel und die Lüsternheit des Mannes im Gebüsch – vermutlich der typische männliche Vertreter eines Publikums, welches Bilder von Fragonard zu betrachten pflegte) abspielt, lädt uns Thilo Franks Schaukelarbeit zu einem selbst erlebten Vergnügen ein. Der Besucher tritt in die Arbeit ein und gerät selbst in Bewegung anstatt nur zu schauen. Überdies unterwandert sie die herkömmliche voyeuristische Einseitigkeit des Kunsterlebnisses, entweder durch die völlige Negierung visuellen Vergnügens in der Dunkelheit des Bunkers oder durch die Rückspiegelung auf den Betrachter in den Spiegelarbeiten.

Sinnliche Entbehrung

Für Infinite Rock war die Konstruktion entscheidend, die die Arbeit umgab. Der gewaltige schwarze Monolith, der anlässlich der Biennale in Schardscha in einem Innenhof präsentiert wurde, erinnerte an die Kaaba, das quaderförmige Heiligtum im Mittelpunkt der Heiligen Moschee in Mekka und Ziel aller Pilger die den Haddsch durchführen; sie ist das Zentrum der islamischen Welt. Indem Frank für seine Schaukelinstallation eine von diesem Gebäude inspirierte Konstruktion wählte, ließ er dieses simple Vergnügen gewissermaßen in einem Heiligtum stattfinden und entweihte somit das Allerheiligste überhaupt. Alleine im Inneren des Monoliths, auf einer Schaukel, in einem verspiegelten Raum – begegnet der Betrachter als Antwort auf eines der größten Geheimnisse des Universums, nicht Gott, sondern einer Reflektion seiner selbst. Bemerkenswert ist jedoch, dass wir, wenn wir in den Spiegel schauen, wiederum ein Äußeres sehen. Das Innere bleibt so weit entfernt, wie die entfernteste Reflektion in der unendlichen Ausdehnung, die uns umgibt.

Die Schaukel in Thilo Franks ungewöhnlicher Kaaba ruft bei mir ein Augenzwinkern hervor und eine – vielleicht irreführende – Assoziation mit dem Gedankenexperiment des schwebenden Menschen des persischen Philosophen Avicenna (980–1037 n.Chr.): demnach sollen wir versuchen uns einen Mensch vorzustellen, der weder eine Geschichte noch Wahrnehmung hat, der erst vor einem kurzen Augenblick erschaffen wurde, der in der Luft schwebt, ohne etwas zu berühren, zu hören oder zu sehen, nicht mal den eigenen Körper. Avicenna argumentierte, dass auch ein solcher Mensch ein geistiges Bewusstsein seines Selbst habe und daher die Seele als grundsätzlich vom Körper getrennt betrachtet werden müsse. In Thilo Franks Experiment finden wir im Mittelpunkt des großen Geheimnisses hingegen die Überwältigung der Verkörperung.

Die Verlockung

Der Ersatzschrein von Infinite Rock ist entgegen seiner Inspiration kein platonischer Körper (Kaaba bedeutet ‘Würfel’). Frank hat vielmehr den schwarzen unregelmäßig geformten Polyeder einem Voronai-Diagramm nachempfunden und so eine Form geschaffen, die an einen Fels oder einen facettierten Kristall erinnert.

Auch in Levitation fungiert der Faustkeil als Mittel mit dem der Künstler eine Form kreiert, die er normalerweise nicht erfinden würde und die sich den Erwartungen des Betrachters widersetzt. Herkömmliche Formen könnten, so sagt Thilo Frank, unmittelbar verstanden werden, während eine unregelmäßige Struktur den Betrachter ermuntert um sie herumzugehen und ihn animiert seine Position zu verändern, um die vielen Gesichter der Arbeit zu erfassen.

Auf ähnliche Weise bringt Levitation den Betrachter, indem auf ein verborgenes Inneres verwiesen wird zu welchem er keinen Zugang hat, aktiv ins Spiel,. Die Geräusche die aus dem hängenden Polyeder kommen deuten darauf hin, dass in seinem Inneren vielleicht etwas verborgen wird. Das Objekt wirkt durch seine Unzugänglichkeit noch rätselhafter. In diesem Sinne ist Levitation eine Verlockung. Indem Frank die Betrachter vor ein Rätsel stellt, lockt er sie an, weckt ihre Neugier und setzt sie in Bewegung. Die Bedeutung zieht sich beständig zurück und kehrt wieder, abgehängt, in verzerrten, flüchtigen Echos. Etwas von zentraler Bedeutung bleibt verhüllt – vielleicht, wenn man die kryptischen Titel seiner früheren Arbeiten bedenkt, der stille Phönix kurz vor seiner Wiederauferstehung.

Thilo Frank scheut die großen Geheimnisse und gewichtigen Fragestellungen nicht. Und doch lässt er sie unbeantwortet, sie bleiben rätselhaft aber auf unmittelbare vergnügliche Weise.  Jenseits der Bezüge, Assoziationen und Gedanken, die sie hervorrufen, gibt es diese körperliche Begegnung zwischen Objekt und Betrachter, die Wahrnehmung der Solidität des Monoliths im Raum.

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Katalogdokumentation zur Ausstellung mit Fotos und Texten von Thomas Häusle und Geoffrey Garrison.
Herausgeber Kunstraum Dornbirn, Zweisprachig Deutsch/Englisch, 58 Seiten, erschienen im Verlag für Moderne Kunst Nürnberg, 2014,
ISBN 978-3-86984-542-5

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